Steigende Löhne
Chinas Arbeiter werden anspruchsvoller und Billigproduzenten suchen das Weite
Chinas arbeitsintensive Bekleidungsindustrie in den Küstenprovinzen, einst das Rückgrat des auf Export basierenden Booms der 1980er und 1990er Jahre, hat ein Problem: steigende Lohnkosten. Guangdong zum Beispiel, die an Hongkong grenzende Provinz und eines der Zentren des chinesischen Wirtschaftserfolges, hat kürzlich den gesetzlichen Mindestlohn zum dritten Mal binnen zweier Jahre heraufgesetzt, und zwar um 13,6 Prozent auf 1500 Yuan (182 Euro) im Monat. Das ist für europäische Standards nicht allzu viel, stellt aber manche Hersteller, der seine Produkte in Europa oder Nordamerika möglichst billig verkaufen will, vor erhebliche Probleme.
Bereits seit einigen Jahren gibt es unter ihnen eine Absetzbewegung. Betriebe ziehen entweder ins Binnenland um, wo die Löhne noch deutlich niedriger sind, oder gleich in neue Billiglohnländer wie Vietnam oder Bangladesch. Die in Hongkong erscheinende South China Morning Post berichtet von dem Beispiel der Firma Mainland Heatwear aus Shenzhen, einer Millionenstadt an Hongkongs Grenze, die in den letzten drei Jahrzehnten aus einer der ersten Sonderwirtschaftszonen entstanden ist.
Die in Hongkong registrierte Firma ist nach Angaben der Zeitung einer der weltgrößten Hersteller von Kopfbedeckungen und gerade im Begriff, 50 Prozent ihrer Produktion nach Bangladesch zu verlagern. Neue Fabriken würden bereits gebaut. In Shenzhen würden die Arbeiter mit durchschnittlich 3000 Yuan (364 Euro) im Monat nach Hause gehen und bekämen dazu noch ein kostenloses Mittagessen. In Bangladesh betrüge der Monatslohn hingegen nur 46 Euro.
Hinzu kommt, dass die Unternehmen in Shenzhen und anderen chinesischen Küstenstädten zunehmend Schwierigkeiten haben, ausreichend Arbeiterinnen und Arbeiter zu finden. Trotz der Lohnerhöhungen und Bonuszahlungen meldeten sich zum Beispiel bei Mainland Headwear dieser Tage nach den Ferien zum chinesischen Neujahr nur 65 Prozent der Mitarbeiter zurück.
Die haben anders als noch vor zehn Jahren heute inzwischen oft Alternativen. Bisher wurden Bekleidungswaren, Spielzeuge und ähnlich arbeitsintensive Produkte meist von jungen Wanderarbeiterinnen aus den ländlichen Regionen im Inland hergestellt, die in Schlafsälen auf dem Fabrikgelände lebten. Heute finden diese aber meist auch reguläre Arbeitsplätze in der Nähe ihrer Familien und ziehen diese vor.
Die chinesische Reserverarmee ist verschwunden
Nach Angaben der Economic Times gehen viele Fachleute inzwischen davon aus, dass China praktisch keine industrielle "Reservearmee" mehr hat. Die auf dem Land nicht mehr benötigten Arbeitskräfte seien bereits in den Arbeitsmarkt integriert. Daraus folgt, dass Arbeitskräfte auf absehbare Zeit rar sein werden, was wiederum interessante und durchaus positive Auswirkungen auf Chinas weitere ökonomische Entwicklung haben wird.
Zum einen entsteht daraus ein zusätzlicher Druck zur Steigerung der Produktivität, was gut für den Aufbau einer modernen Industrie ist. Außerdem haben die Arbeiter es unter diesen Bedingungen wesentlich leichter, höhere Löhne durchzusetzen. Und tatsächlich steigen diese noch schneller als die Mindestlöhne.
Höheres Masseneinkommen führt wiederum zur Steigerung der Binnennachfrage, was ganz im Sinne der Führung in Beijing (Peking) ist. Diese versucht unter anderem, auch durch Steuergeschenke an die Bezieher niedriger Einkommen die Inlandsnachfrage zu steigern. Im September 2011 wurde zum Beispiel der Freibetrag für die Einkommenssteuer von 2000 Yuan (242 Euro) monatlich auf 3500 Yuan (424 Euro) herauf gesetzt. Weitere Schritte sollen demnächst folgen.
Mit dieser Entwicklung folgt China dem Beispiel der asiatischen Tigerstaaten wie Taiwan, Singapur oder Südkorea, die in den vergangenen Jahrzehnten auch zunächst arbeitsintensive Exportindustrien aufgebaut hatten. Mit dem dadurch akkumulierten Kapital konnten sie schließlich ihre Industrialisierung vorantreiben, die Technologieleiter nach oben klettern und zu den reichen Staaten aufschließen. Ganz so, wie es China derzeit macht.
Das Besondere der chinesischen Prozesse ist derweil der Umfang der betroffenen Arbeitskraft. Der Fortzug der Massengüterindustrie kann gleich in einer Vielzahl von Staaten einen ähnlichen Industrialisierungspfad eröffnen. Außerdem ist der rasante Anstieg der chinesischen Einkommen auch eine gute Nachricht für die Lohnabhängigen in aller Welt, weil es den Druck auf ihre Gehälter reduzieren und mittelfristig das globale Lohngefälle abflachen wird.
China selbst hat allerdings in dieser Hinsicht noch einen weiten Weg zu gehen. Zwar wurde seit den 1990er Jahren die Zahl der Menschen, die von zwei US-Dollar oder weniger pro Tag auskommen müssen, um fast 70 Prozent reduziert. Aber noch immer sind es 208 Millionen Menschen, die auf diesem Niveau leben, das dem UN-Kriterium für Armut entspricht. 128 Millionen Menschen haben sogar weniger als einen US-Dollar pro Tag.